Gedanken für den Tag Ernst Jandl und das Glück
Sa, 02.08. | 6:57-7:00 | Ö1
Ernst Jandl hatte eine glasklare Sicht auf das Ende des Lebens. Jetzt, wo ich selbst langsam älter werde, geht mir das Gedicht „der seiltänzer“ nicht mehr aus dem Kopf, das in seinem Gedichtband „stanzen“ enthalten ist. Es lautet:des lebm is a fruchtund so a frucht is dara wuchtdes glaubst a wäu, don schaust oweunz reisst de vom säuSo schnell ist der Enthusiasmus der Jugend vorbei, so kurz ist das Leben. Doch vor kurzem ist mir ein Jandl-Gedicht in einer ganz anderen Tonart untergekommen. Ich verdanke es dem Band „Ernst Jandl zum 100.“, in dem Autorinnen und Autoren seines Luchterhand-Verlags ihr Lieblingsgedicht von Jandl ausgewählt haben. Und da fand ich dieses Gedicht: junger sperlingmein bißchen lebensglückfliegt zu mir zurückes liegt in meiner handals zitterndes unterpfandfür die dräuenden beschwerden.und es will abend werdenDieses ganz traditionell gereimte und scheinbar so einfache Gedicht nennt ein Lebensglück, das wie ein junger Sperling in der Hand des Sprechers liegt, aber es hütet sich zu sagen, worin dieses Lebensglück besteht. Dann kommt das Wort „Unterpfand“, das man noch aus Bibelübersetzungen kennt und aus einem alten Gebet – vom „Unterpfand der künftigen Herrlichkeit“ ist dort die Rede. Doch hier ist das Glück das Unterpfand, also quasi die Garantie dafür, dass die Beschwerden schon noch kommen werden. Doch jetzt liegt das Glück in der Hand – und der Schlusssatz „und es will abend werden“ spielt auf die Begegnung mit dem auferstandenen Jesus in Emmaus an.Bleibt nur noch die Frage: Was ist dieses Lebensglück? Für Ernst Jandl könnte es das Glück gewesen sein, wieder schreiben zu können. Aber wer das Gedicht liest, kann sein oder ihr eigenes Lebensglück darin sehen.
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